Mit der Polyvagal-Theorie von ME/CFS und Long Covid heilen? Pt.1

Polyvagal-Theorie

Polyvagal-Theorie, entwickelt von Dr. Stephen Porges in den 1990er Jahren, bietet eine bahnbrechende Perspektive auf das autonome Nervensystem und seine Rolle bei Stress, Traumata und Heilung. Sie stellt eine direkte Verbindung zwischen unserem Nervensystem und sozialen Verhaltensweisen her. Das macht die Polyvagal-Theorie zu einem vielversprechenden Ansatz, um Krankheiten wie Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) und Long Covid zu verstehen. In diesem Beitrag erfährst du, was die Polyvagal-Theorie ist und wie sie helfen kann, die Heilung bei diesen komplexen Krankheitsbildern zu unterstützen.

Was ist die Polyvagal-Theorie?

Traditionell wurde das autonome Nervensystem in zwei Hauptteile unterteilt: den Sympathikus (der für „Kampf-oder-Flucht“-Reaktionen zuständig ist) und den Parasympathikus (der für „Ruhe und Verdauung“ verantwortlich ist). Die Polyvagal-Theorie erweitert dieses Modell, indem sie das parasympathische System in zwei „Äste“ unterteilt:

  1. Der ventrale Vagusnerv: Dieser „Ast“ ist evolutionär neuer und vermittelt soziale Interaktion, Entspannung und die Fähigkeit, in Beziehungen zu treten. Er ist eng mit dem Gesichtsausdruck, der Stimmmodulation und der Herzfrequenzvariabilität (HRV) verbunden.
  2. Der dorsale Vagusnerv: Dieser „Ast“ des Parasympathikus ist evolutionär älter und aktiviert sich in Situationen extremer Bedrohung oder Überforderung. Diese führt dann zu einem Zustand von „Erstarrung“ oder „Abschaltung“. In der Tierwelt sehen wir z.B. häufig, dass die gejagte Beute kurz bevor sie gefressen wird, bereits leblos wirkt. Da hier weder Kampf noch Flucht mehr möglich ist, geht das Nervensystem in den „Freeze“ Modus (siehe Video).

Diese Theorie betont die dynamische Funktion des Vagusnervs und wie er uns hilft, auf Bedrohungen zu reagieren oder in Sicherheit zu ruhen. In sicheren Umgebungen aktiviert sich der ventrale Vagus, was uns erlaubt, uns zu entspannen und soziale Bindungen aufzubauen. Bei Bedrohung übernehmen der sympathische „Kampf-oder-Flucht“-Modus oder im schlimmsten Fall (wenn weder Kampf noch Flucht mehr möglich ist) der dorsale Vagus. Er bewirkt eine Art „Herunterfahren“ des Körpers, um sich vor weiterem oder traumatischem Stress (wie im Tierbeispiel oben „dem Auffressen“) zu schützen.

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Ein klassisches Beispiel einer „Erstarrungs-“ Reaktion der Polyvagal-Theorie: Ein Impala erstarrt, kurz bevor es von seinem Angreifer gefressen wird. KEINE SORGE: Das Tier entkommt!

Die Verbindung zwischen der Polyvagal-Theorie, ME/CFS und Long Covid

ME/CFS und Long Covid werden als komplexe Erkrankungen gesehen, die durch schwere Erschöpfung, kognitive Dysfunktionen, Schmerzen und oft ein gestörtes Immunsystem gekennzeichnet sind. Die genauen Ursachen sind nicht vollständig verstanden, aber immer mehr Studien deuten auf eine Dysregulation des autonomen Nervensystems hin. Hier kommt die Polyvagal-Theorie ins Spiel.

  1. Chronische Stressreaktion und autonome Dysregulation
    Viele Menschen mit ME/CFS und Long Covid befinden sich schon vor dem finalen Crash in einem Zustand chronischer Überlastung. Der Körper findet dadurch nicht mehr aus der „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion heraus, wodurch das Nervensystem langfristig dysreguliert wird.¹ Deshalb funktioniert die sogenannte Neurozeption (die unbewusste Fähigkeit unseres Nervensystems, die Umgebung sowie interne Körperzustände auf Sicherheit oder Gefahr zu „scannen“) nicht mehr optimal. Entsprechend beginnt unser Nervensystem, alle Reize (Lärm, Licht, Berührung etc.) aber auch alle anderen Aktivitäten (wie z.B. einen einfachen Spaziergang) als „Gefahr“ einzustufen. Hierdurch könnte die bei ME/CFS und Long Covid übliche Reizempfindlichkeit sowie die Belastungsintolranz erklärt werden.
  2. Vagal Tone (Vagustonus) und Heilung
    Der sogenannte Vagustonus, also die Funktionsfähigkeit des Vagusnervs, spielt eine Schlüsselrolle in der Regulation des Nervensystems. Ein höherer Vagustonus kann teilweise über die Herzfrequenzvariabilität gemessen werden. Er steht in Verbindung mit besserer Resilienz gegenüber Stress, verbessertem Schlaf und einer effektiven Immunreaktion. Entsprechend könnte ein gestörter Vagusnerv bei Menschen mit ME/CFS und Long Covid dazu beitragen, dass der Körper nicht in einen Zustand der Erholung und Heilung zurückfindet.²
  3. Der „Erstarrungsmodus“ des dorsalen Vagus
    Ein zentrales Symptom von ME/CFS ist die extreme Erschöpfung, die weit über normale Müdigkeit hinausgeht. Die Polyvagal-Theorie deutet darauf hin, dass dies ein Zeichen dafür sein könnte, dass der dorsale Vagus in einen defensiven Modus geschaltet hat. Wie oben beschreiben, soll so der Körper vor weiterer Überforderung geschützt werden. Dies kann erklären, warum viele Betroffene das Gefühl haben, „abgeschaltet“ oder „eingefroren“ zu sein und Schwierigkeiten haben, in einen aktiven Zustand zurückzukehren.
  4. Entzündungen und Immunantwort
    Neuere Studien legen nahe, dass der Vagusnerv eine Rolle bei der Steuerung der Immunantwort und der Verringerung von Entzündungen spielt³, die bei Long Covid und ME/CFS eine wichtige Rolle spielen. Entsprechend könnte eine dysregulierte Vagusaktivität könnte also zu chronischen Entzündungen und einer schlechten Immunfunktion beitragen, was die Heilung behindert.

Stärkung des Vagusnervs in der Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie bietet auch Ansätze zur Wiederherstellung eines gesunden Nervensystems und somit zur Unterstützung der Heilung. Ein Schlüsselkonzept ist, den ventralen Vagus zu aktivieren, um den Körper aus der chronischen „Kampf-oder-Flucht“- oder „Erstarrungs“-Reaktion herauszuholen. So kann er in einen Zustand der Sicherheit und Regeneration gebracht werden..

Strategien zur Stärkung des Vagusnervs:

  • Atemübungen: Tiefe, langsame Atmung, insbesondere mit einer verlängerten Ausatmung, kann den ventralen Vagus stimulieren und das Nervensystem beruhigen.
  • Soziale Interaktion und Bindung: Soziale Unterstützung, die über sichere und vertrauensvolle Beziehungen erfolgt, kann helfen, das Nervensystem zu regulieren. Diese Co-Regulation führt laut Polyvagal-Theorie zur Aktivierung des ventralen Nervensystems.
  • Gesang, Summen, Gurgeln, Abklopfen: Diese Aktivitäten aktivieren den ventralen Vagus durch die Verbindung mit den Muskeln im Hals und um das Gesicht herum.
  • Achtsamkeit und Meditation: Techniken wie Achtsamkeit und sanfte Bewegung (z.B. Yoga oder Tai Chi) helfen, den Körper in einen parasympathischen Zustand zu bringen.
  • Sanfte Bewegung: Aktivitäten, die den Körper nicht überfordern, aber eine leichte Bewegung ermöglichen, können das Nervensystem zu beruhigen. Beispielsweise gehören hierzu Dehnen, „Hin und Her“-Wiegen oder kurze Spaziergänge (wenn möglich).

Weitere Ansätze: Brain Retraining, Somatic Experiencing, EMDR und Biofeedbacke

Bei ME/CFS, Long Covid und anderen Mind-Body-Syndromen wird das Nervensystem oft durch chronischen Stress, Trauma oder anhaltende Krankheitssymptome dysreguliert. Ansätze wie Brain Retraining, Somatic Experiencing, EMDR und Biofeedback bieten Wege, das Nervensystem neu zu trainieren und auf Entspannung und Regeneration zu programmieren. Diese Methoden zielen auf die Regulierung des autonomen Nervensystems ab und helfen, die ständige Übererregung des Sympathikus zu reduzieren. Menschen mit ME/CFS oder Long Covid können durch diese ganzheitlichen und neurobiologisch fundierten Ansätze eine Verbesserung ihrer Symptome erfahren. Indem sie das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht bringen und den Körper aus dem chronischen „Erstarrungs“- oder „Kampf-oder-Flucht“-Modus herausholen, können Selbstheilungskräfte aktiviert werden.

In weiteren Blogartikeln gehen wir noch mehr auf die Themen Brain Retraining, Somatic Experiencing, EMDR und Biofeedback ein. Außerdem greifen wir die Polyvagal-Theorie sowie das Nervensystem regulierende Methoden und Techniken natürlich im Podcast auf. Für weiterführende Informationen im Deutschen empfehle ich außerdem die Ressourcen auf der Webseite der Polyvagal Akademie und den Instagram Kanal @bodybased.coaching von Elena.

Quellen:

¹Newton, J. L., Okonkwo, O., Sutcliffe, K., Seth, A., Shin, J., & Jones, D. E. J. (2007). Symptoms of autonomic dysfunction in chronic fatigue syndrome. Quarterly Journal of Medicine, 100(8), 519-526 und Dani, M., Dirksen, A., Taraborrelli, P., Torocastro, M., Panagopoulos, D., Sutton, R., & Lim, P. B. (2021). Autonomic dysfunction in ‘long COVID’: rationale, physiology and management strategies. Clinical Medicine, 21(1), e63-e67.

²Thayer, J. F., & Lane, R. D. (2000). A model of neurovisceral integration in emotion regulation and dysregulation. Journal of Affective Disorders, 61(3), 201-216.

³Tracey, K. J. (2009). Reflex control of immunity. Nature Reviews Immunology, 9(6), 418-428.